Tonkünstler
In seinem Selbstbewusstsein gilt Beethoven als "moderner" Künstler und Individualist.
In seinem unermüdlichen Drang zur künstlerischen Erneuerung war er radikal, kein Mann der Kompromisse! Seine Werke – viele davon Schlüsselwerke der Musikgeschichte – bilden ebenso das Zentrum des Jubiläumsprogramms wie die Betrachtung seines Einflusses auf Generationen von Komponisten und Musikern bis hin zu aktuellen Uraufführungen.
Beethovens Zeit war eine Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs, was sich nicht zuletzt in seinem künstlerischen Selbstverständnis zeigt. Auch wenn er einer Familie von Hofmusikern entstammte und selbst zeitlebens ein höfisches Amt anstrebte, lebte er in Wien als freier Künstler – mit allen Vor- und Nachteilen, die eine solche Situation mit sich brachte. Und auch wenn schon ältere Musiker sich als „Originalgenie“ stilisierten – besonders offensiv und erfolgreich Beethovens Lehrer Joseph Haydn – so nahm die Ausprägung des Originalitätsgedankens bei Beethoven doch eine neue Qualität an.
Äußerlich zeigt sich dies bereits an der Anzahl der von Beethoven komponierten Werke: Während Haydn über 100 Symphonien komponierte und Mozart immerhin noch über 40, so sind es bei Beethoven gerade noch neun. Statt der ca. 100 Opern eines Giovanni Paisiello, der über 40 Opern eines Antonio Salieri oder der immer noch über 30 Opern eines Joseph Weigl, schrieb Beethoven gerade noch eine. Auch wenn dies als Folge seiner fehlenden institutionellen Anbindung zu werten ist, hatte die im Vergleich zu seinen direkten Vorgängern und Zeitgenossen reduzierte Produktion unmittelbare Auswirkungen sowohl für Beethoven selbst als auch für seine Wahrnehmung und Rezeption. Beethoven wurde zu einem Komponisten, der individuelle Werke mit einem erhöhten Anspruch komponierte, und sein Publikum wie die Nachwelt stellten ebenfalls erhöhte Erwartungen an sein Schaffen.
Der hohe Stellenwert des einmaligen Kunstwerkes prägt auch unsere heutige Sichtweise auf künstlerisches Schaffen – ebenso wie eine künstlerische Radikalität, die sich nicht in der Füllung vorgegebener Rahmenbedingungen erschöpfen mag. Bei Beethoven sehen wir beides ausgeprägt.
Spätestens seit Beethoven kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert mit Werken wie der sogenannten Sturmsonate einen emphatisch „neuen Weg“ im Komponieren einschlug und sich damit explizit als Komponist definierte – in Abgrenzung zum komponierenden Kapellmeister oder Virtuosen – wird das Selbstbild Beethovens als „moderner“ Künstler manifest. Seinem Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel schrieb er im Oktober 1802, er habe zwei Variationenzyklen komponiert, „beyde sind auf eine wircklich ganz neue Manier bearbeitet, jedes auf eine andre verschiedene Art.“ Wenige Sätze später bekräftigte er noch einmal, „daß die Manier in beyden Werken ganz neu von mir ist.“ Ab diesem Zeitpunkt lag der Schwerpunkt auf dem Schaffen individueller – „neuer“ – Kunstwerke; anlassbezogene oder kleinere Stücke wurden, zumal von der Nachwelt, häufig marginalisiert.
Zahlreiche Werke Beethovens sind zu Schlüsselwerken der Musikgeschichte geworden. Auf sie werden Künstler und Konzertveranstalter nicht nur im Jubiläumsjahr immer wieder zurückkommen. Andere Werke sind heute weniger bekannt, können aber als zentral für Beethovens Leben und Schaffen gelten – wie Wellingtons Sieg oder die frühen Righini-Variationen , sowie die zahlreichen Bearbeitungen schottischer, irischer und walisischer Volkslieder. Indem das Jubiläum auch solche Werke berücksichtigt, bricht es die Kanonisierung des Repertoires auf und das Publikum erhält die Chance, 2020 auch den unbekannten Beethoven zu entdecken.
Musikalisch übte Beethoven auf die nachfolgenden Generationen enormen Einfluss aus: Franz Schubert und Robert Schumann führten Beethovens Idee des Liederzyklus weiter, Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy knüpften in ihren Symphoniekonzeptionen an Beethoven an ebenso wie Johannes Brahms, der das Erbe Beethovens allerdings in erster Linie als belastend empfand – als wenn er einen „Riesen hinter sich marschieren“ hörte. Franz Liszt wurde von Beethoven zu zahlreichen Bearbeitungen angeregt, und Richard Wagner stilisierte die Neunte Symphonie zur Vorläuferin von seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks.
Fast unzählig sind die künstlerischen Adaptionen, zu denen Beethovens Werke inspirierten. Schon zu seinen Lebzeiten wurden seine Werke neu instrumentiert – Beethoven beteiligte sich aktiv an diesem Prozess, wenn im Rahmen der Originalausgabe der siebten und achten Symphonie die Werke für insgesamt sieben verschiedene Besetzungen herauskamen. Solche Instrumentationsänderungen, speziell wenn gemischte Besetzungen auf ein klanghomogenes Ensemble übertragen wurden oder umgekehrt, ließen die Werke in einem ganz neuen Licht erscheinen. Textierungen von ursprünglich rein instrumentalen Werken eröffneten neue Verstehens-Horizonte; Übersetzungen und Neutextierungen konnten abweichende Akzente setzen (wie in der Originalausgabe der C-Dur-Messe op. 86, der ein deutscher Text beigegeben wurde). Die Eliminierung des Textes kann einem Vokalwerk umgekehrt neue Dimensionen erschließen: Ferruccio Busonis verwandelte das Benedictus aus der Missa solemnis in ein Konzertstück für Violine und Orchester, Marcel Duprés komponiert eine Orgelparaphrase über „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre.“
Bereits 1817 stellte der Verleger Anton Diabelli ein Großes Potpourri aus Beethovens beliebtesten Werken zusammen; Beethovens Schüler Carl Czerny komponierte mehrere Fantasien über Beethoven’sche Themen. Mit seinen 33 Variationen op. 130 griff Stephen Heller das Thema aus Beethovens WoO 80 auf, das Beethoven selbst als Grundlage für einen Zyklus von 32 Variationen gedient hatte; Max Reger ließ sich von der Bagatelle op. 119 Nr. 1 zu seinen Variationen und Fuge über ein Thema von Beethoven op. 86 anregen. Dmitri Schostakowitsch widmete seine Sonate für Viola und Klavier „dem Andenken an den großen Beethoven“, musikalisch bezog er sich auf den Kopfsatz der sogenannten Mondscheinsonate.
Leonard Bernstein, der seine Komposition There had to be a revolution mit „Lenny Beethoven“ signierte, verarbeitete in Mass eine Tonreihe aus dem Finale der Neunten Symphonie. Aus Anlass des 30. Beethovenfestes 1980 vergab die Stadt Bonn einen Kompositionsauftrag an Luigi Nono, der mit Fragmente – Stille, An Diotima eine der bekanntesten Streichquartett-Kompositionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert vorlegte. Luc Ferrari führte 1985 in seiner Tonbandkomposition Strathoven Beethoven mit Igor Strawinsky zusammen. In seinem Orchesterwerk Aufbruch , das anlässlich des Umzugs des Deutschen Bundestages von Bonn nach Berlin am 1. Juli 1999 auf dem Bonner Marktplatz erklang, griff York Höller sinnfällig auf Beethovens Klaviersonate Lebewohl op. 81a sowie auf Robert Schumanns Rheinische Symphonie und Bernd Alois Zimmermanns Rheinische Kirmestänze zurück. Als Besonderheit können Kompositionen gelten, die eigens für eine Aufführung in Kombination mit einem Werk Beethovens geschrieben wurden, wie Rodion Shchedrins Präludium bzw. Aribert Reimanns Prolog zur Neunten Symphonie.
Kristallisationspunkte für solche künstlerischen Auseinandersetzungen waren in der Vergangenheit die Jubiläumsjahre seit 1870. Das Projekt Diabelli ʼ81 zum 200. Geburtstag des Wiener Verlegers, im Rahmen dessen österreichische Komponisten aufgefordert waren, neue Diabelli-Variationen vorzulegen, wäre ohne Beethovens op. 120 kaum denkbar gewesen.
Die Tradition wird 2020 fortgesetzt: Auf zahlreiche neue „Beethoven-Kompositionen“ unterschiedlichster Genres zum Jubiläum BTHVN2020 darf man gespannt sein.
Übrigens waren und sind künstlerische Auseinandersetzungen keineswegs auf die sogenannte E- Musik beschränkt, wie der Chuck Berry Song Roll Over Beethoven , die Auseinandersetzung der Gruppe Kraftwerk mit dem Streichquartett op. 132, der Titel Oder an die Freude der Pop-Sängerin Judith Holofernes, das Programm Crossover Beethoven des Jazz-Pianisten Marcus Schinkel und seines Trios oder Remix-Fassungen Beethoven’scher Werke zeigen.
Christine Siegert & Christian Lorenz
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